Die Relevanz neuer Technologien – Medizintechnik 4.0
26. Juli 2024
Medizintechnik 4.0 bezieht sich auf die Integration moderner Technologien und digitaler Innovationen in die medizinische Technik, um die Effizienz, Präzision und Personalisierung der Gesundheitsversorgung zu verbessern. Sie steht im Kontext von Industrie 4.0, das die vierte industrielle Revolution beschreibt, die durch die zunehmende Vernetzung und Digitalisierung der Produktion gekennzeichnet ist.
IoT, Interoperabilität und Vernetzung
Im Kontext von Medizingeräten bezeichnet Interoperabilität die Fähigkeit unabhängiger, heterogener Systeme, hinsichtlich physischer oder virtueller Schnittstellen verwertbare Informationen auszutauschen. Diese Geräte können Vitalparameter wie Herzfrequenz, Blutdruck und Blutzuckerspiegel in Echtzeit überwachen. Die gesammelten Daten werden an zentrale Systeme oder direkt an Gesundheitsdienstleister gesendet, die sie analysieren und bei Abweichungen sofort reagieren können. Durch intelligente Menüführung, Vernetzung und Belegung verschiedener Geräte mit dem gleichen, bzw. einem gemeinsamen User Interface, kann die Komplexität der Geräte gemanagt und Abläufe automatisiert und verbessert werden. Der Reifegrad der Interoperabilität wird durch die Komplexität der Orchestrierung von Abläufen und Prozessen zwischen einzelnen Funktionalitäten bestimmt.
Hierfür sind vor allem geräte- und herstellerübergreifende Standards notwendig, um Schnittstellen und übertragene Daten eindeutig zu spezifizieren. Etabliert haben sich:
Standardisierung
- DICOM: Als Standard für die Speicherung, Übertragung und Anzeige von medizinischen Bildern und zugehörigen Informationen, um die Interoperabilität zwischen verschiedenen bildgebenden Geräten wie CT, MRT, Ultraschall und Röntgen sowie den Systemen, die diese Bilder verwalten und anzeigen zu ermöglichen.
- IEEE 11073: Ist eine Familie von Standards, die speziell für die Kommunikation zwischen medizinischen Geräten und Informationssystemen entwickelt wurden. Diese Standards definieren Protokolle und Datenformate für die Interoperabilität von Geräten wie Patientenmonitoren, Infusionspumpen und anderen medizinischen Geräten, die Vitalparameter überwachen oder therapeutische Funktionen ausführen. IEEE 11073 wird oft in Verbindung mit anderen Standards wie HL7 verwendet.
- HL7: Ist ein weit verbreiteter, aber mittlerweile veralteter Standard für den Austausch von Gesundheitsinformationen zwischen verschiedenen medizinischen Anwendungen. HL7 V2 ist der am häufigsten implementierter Standard für die Kommunikation zwischen Krankenhausinformationssystemen (HIS) und anderen klinischen Systemen, während HL7 V3 und die Fast Healthcare Interoperability Resources (FHIR) modernere und flexiblere Ansätze bieten.
- FHIR: Ist ein moderner Standard, der von HL7 entwickelt wurde, um die Interoperabilität im Gesundheitswesen zu verbessern. FHIR kombiniert die besten Aspekte früherer HL7-Standards mit neuesten Web-Standards und erleichtert die Implementierung durch eine modularisierte Struktur. FHIR-APIs ermöglichen eine schnelle und einfache Integration von Gesundheitsdaten zwischen verschiedenen Systemen und Anwendungen, insbesondere in mobilen und Cloud-basierten Umgebungen.
- LOINC (Logical Observation Identifiers Names and Codes): Ist ein universelles System zur Identifizierung von medizinischen Laboruntersuchungen, klinischen Beobachtungen und anderen Messungen. Es wird verwendet, um die Austauschbarkeit und Vergleichbarkeit von Labordaten und anderen klinischen Informationen zu gewährleisten. LOINC-Codes ermöglichen es, dass Informationen aus verschiedenen Laborsystemen und elektronischen Patientenakten (EHRs) konsistent und verständlich sind.
- SNOMED CT (Systematized Nomenclature of Medicine - Clinical Terms): Ist ein umfassendes, multilinguales klinisches Gesundheitsvokabular, das medizinische Begriffe und Konzepte standardisiert. Es wird verwendet, um sicherzustellen, dass klinische Informationen klar und einheitlich dokumentiert werden können, was die Interoperabilität zwischen verschiedenen Gesundheitssystemen und Anwendungen unterstützt.
Vernetzte und untereinander selbstständig kommunizierende medizinische Geräte unter Implementierung obiger Standards ermöglichen eine Vielzahl neuer Möglichkeiten in allen medizinischen Bereichen. Sie stellen aber auch neue Anforderungen an die Sicherheit der IT-Systeme, was eine genaue Überprüfung aller beteiligten Geräte, aber auch übergreifende Sicherheitskonzepte nötig macht.
Künstliche Intelligenz (KI), Big Data und maschinelles Lernen
Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen revolutionieren die Medizintechnik, indem sie große Mengen medizinischer Daten analysieren und Muster erkennen können. Durch die Integration und Analyse verschiedener Datensätze, einschließlich elektronischer Gesundheitsakten, genetischer Informationen und Daten aus tragbaren Geräten, können Forscher und Ärzte umfassendere Einblicke in Krankheitsmuster gewinnen. Daraus können Diagnosen präziser abgeleitet werden und zum Beispiel für maßgeschneiderte Behandlungspläne verwendet werden. Big Data kann auch dazu beitragen, die Effektivität von Medikamenten und Behandlungen zu überwachen und Nebenwirkungen frühzeitig zu erkennen. Insgesamt trägt die Nutzung von Big Data zu einer evidenzbasierten Medizin bei, die die Effizienz des Gesundheitssystems verbessert werden kann.
Die Erkenntnisse aus umfangreichender Datenanalyse können genutzt werden, um zum Beispiel KI-Systeme zu entwickeln, welche in der Radiologie eingesetzt werden, um Bilder zu analysieren und potenzielle Anomalien schneller und präziser zu identifizieren als menschliche Experten. Die Analyse von genetischen Daten im Abgleich mit Krankengeschichten kann in der Onkologie helfen, personalisierte Behandlungspläne zu erstellen und die Therapie damit zu verbessern, weil aus vorangegangenen Behandlungen gelernt werden kann. Damit kann KI genutzt werden, um die Forschung zu beschleunigen und neue Therapieansätze zu identifizieren.
Damit einher gehen aber auch neue regulatorische Anforderungen, welche bei der Zulassung derartiger Medizinprodukte zu beachten sind. Eine weitere Herausforderung in diesem Kontext ist aber auch die Datenqualität. Ein KI-System kann nur so gute Ergebnisse liefern, wie die Datenqualität, die es zum Training zur Verfügung gestellt bekommt.
Telemedizin
Telemedizin nutzt digitale Kommunikationstechnologien, um medizinische Dienstleistungen aus der Ferne bereitzustellen und somit den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu verbessern. Patienten können über Videokonsultationen mit Ärzten sprechen, was besonders in ländlichen oder unterversorgten Gebieten von Vorteil ist. Telemedizin ermöglicht auch die Fernüberwachung von Patienten, wodurch chronische Krankheiten besser gemanagt und Krankenhausaufenthalte reduziert werden können. Vernetzte Medizinprodukte zur Heimanwendung in Kombination mit der Nutzung elektronischer Patientenakten erleichtern den Austausch medizinischer Informationen zwischen verschiedenen Gesundheitsdienstleistern und verbessern die Koordination der Versorgung. Zudem kann Telemedizin die Wartezeiten für Patienten verkürzen und die Effizienz des Gesundheitssystems steigern. Insgesamt trägt Telemedizin dazu bei, die Gesundheitsversorgung zugänglicher, bequemer und kosteneffizienter zu gestalten.
3D-Druck, Robotik und Augmented Reality
Vor allem im Bereich der Chirurgie bringen neue Technologien enorme Fortschritte mit sich, um die Präzision, Effizienz und Individualisierung der medizinischen Versorgung zu verbessern.
- 3D-Druck: Ermöglicht die maßgeschneiderte Herstellung von medizinischen Geräten, Prothesen und sogar Organmodellen. Individuell angepasste Implantate und Prothesen bieten eine bessere Passform und Funktionalität, was zu besseren Patientenergebnissen führt. Chirurgische Modelle aus dem 3D-Drucker erlauben eine präzisere Planung und Durchführung komplexer Eingriffe. Die schnelle und kosteneffiziente Produktion von medizinischen Werkzeugen und Geräten, insbesondere in Entwicklungsländern, ist ein weiterer Vorteil. Allerdings stellt die Qualitätskontrolle und Regulierung von 3D-gedruckten medizinischen Produkten eine Herausforderung dar, ebenso wie die Sicherstellung der Biokompatibilität und Langlebigkeit der verwendeten Materialien.
- Robotik: Die Robotik spielt eine zunehmend wichtige Rolle in der Chirurgie, Rehabilitation und Pflege. Robotergestützte Chirurgiesysteme ermöglichen minimal-invasive Eingriffe mit höherer Präzision, in der Rehabilitation unterstützen Roboter Patienten bei Übungen, Pflegeroboter entlasten das Pflegepersonal, indem sie alltägliche Aufgaben übernehmen.
- Augmented Realität (AR): Bietet vielfältige Anwendungen in der medizinischen Ausbildung und Chirurgieplanung. In der medizinischen Ausbildung ermöglicht AR eine immersive und interaktive Lernumgebung, in der angehende Mediziner komplexe anatomische Strukturen und chirurgische Techniken realitätsnah studieren können. Sollen derartige Geräte als Medizinprodukt eingesetzt werden, darf ein gut etablierter Usability-Prozess nicht fehlen, um die sichere Benutzbarkeit neuer Technologien nicht zu vernachlässigen.
Cybersecurity
Medizintechnik 4.0 mit all ihren Möglichkeiten sorgt dafür, dass mit der zunehmenden Digitalisierung und Vernetzung im Gesundheitswesen Cybersecurity zu einer zentralen Herausforderung wird.
Der Schutz sensibler medizinischer Daten vor Cyberangriffen und Datenschutzverletzungen ist von größter Bedeutung. Bekannte Angriffe auf Systeme der Medizintechnik nutzen Schwachstellen unverschlüsselter Funkverbindungen zwischen funktionalem Gerät und Fernbedienung oder sicherheitsrelevante Schwachstellen von Soft- und Firmware. Die Möglichkeit, per remote Servicezugriff Gerätewartungen durchzuführen, kann einerseits durch schnelle Updateverfügbarkeit die Sicherheit erhöhen, bietet aber auch einen neuen möglichen Angriffspfad auf das Gerät. Somit müssen mögliche Produktrisiken, verglichen mit ihrem Nutzen, vertretbar und nach höchstmöglichem Maß an Gesundheitsschutz und Sicherheit bewertet werden. Gesundheitsdaten sind besonders wertvoll und können bei unzureichendem Schutz für kriminelle Zwecke missbraucht werden. Daher müssen robuste Sicherheitsmaßnahmen implementiert werden, um die Vertraulichkeit, Integrität und Verfügbarkeit dieser Daten zu gewährleisten. Dazu gehören Verschlüsselungstechnologien, regelmäßige Sicherheitsüberprüfungen und Schulungen des Personals im Umgang mit Cyberbedrohungen. Zudem ist die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften und Standards, wie der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), unerlässlich. Ein effektives Cybersecurity-Management schützt nicht nur die Daten, sondern auch das Vertrauen der Patienten in das Gesundheitssystem.
Cybersicherheit muss über den gesamten Lebenszyklus sichergestellt sein. Dies beinhaltet, dass bereits innerhalb des Entwicklungs- und Produktionsprozesses die Produkte entsprechend spezifiziert werden. Dies erfordert geeignete Prozesse, um Informationen von Patienten und Anwendern sicherzustellen, die Software vor Manipulation zu schützen und die Produkte in ihrem Lebenszyklus am Markt zu beobachten.
Möchten Sie mehr über Methoden und Hintergründe für gutes Cybersecurity-Management erfahren, lesen sie auch unseren Artikel "Cybersecurity bei Medizinprodukten"
Medizintechnik 4.0 hat das Potenzial, die Qualität der Patientenversorgung zu verbessern, die Effizienz des Gesundheitssystems zu steigern und die Kosten zu senken. Die Herausforderung besteht darin, diese Technologien sicher, ethisch und effektiv zu implementieren.
Unser Service für Sie:
Sie benötigen Unterstützung bei Ihrem Medizinprodukt 4.0? Unsere Expertinnen und Experten helfen Ihnen gerne weiter und unterstützen Sie bspw. bei der Ausarbeitung und Implementierung von Prozessen zur Zulassung eines KI-Medizinprodukts, der Erstellung einer Cybersecurity-Risikoanalyse oder der Anforderungsspezifikation für ein vernetztes Medizinprodukt.
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